Michael Rot: JAPAN IST EINE INSEL

Leseprobe: Ausschnitte aus den fünf Kapiteln

[…]

»Insel!«, sagt meine Frau gewöhnlich, wenn ich am Verständnis japanischer Verhaltensweisen scheitere, »Japan ist eine Insel!« Obwohl – offiziell sind es 6852 Inseln; so genau kann man das aber nicht sagen, weil vielleicht gerade jetzt der eine oder andere Minivulkan entsteht oder im Meer versinkt. 
   Außerdem würden einige Nachbarstaaten diese Zahl bestreiten. Mir selbst hätten ja die vier Hauptinseln genügt; den meisten Japanern wahrscheinlich auch – aber die hat keiner gefragt.
   Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dass es notwendig sein könnte, zu definieren, was eine Insel ist? Für die Zählung der japanischen Inseln wurde das formuliert als »eine vollständig von Meerwasser umgebene Landmasse, die auch bei Hochwasser mit zumindest hundert Metern Durchmesser aus dem Meer ragt«.

[…]

Gespräch in der U-Bahn von Ōsaka:
   »Haben wir heute Abend etwas vor?«, fragte ich
   »Ich habe meinen Eltern versprochen, dass wir vorbei kommen.«
   »Wann?«
   »Gestern.«
   »Ich meine, wann sollen wir dort sein?«
   »Um halb acht.«
   »Kein Problem, jetzt ist es erst sechs.«
   »Psst! Nicht so laut!«, ermahnte mich meine Frau plötzlich.
   »Du sprichst doch genauso laut.«
   »Aber niemand versteht mich.«
   »Natürlich, wir sprechen Deutsch.«
   »Aber dieses Wort versteht hier jeder.“  
   »Welches Wort?«
   »Sie glauben, wir reden über Sex!«

[…]

Japan ist flächenmäßig deutlich größer als Europäer im Allgemeinen glauben. Mit 378 000 Quadratkilometern übertrifft es Deutschland, genauer gesagt ist es so groß wie ganz Deutschland plus Salzburg, Tirol und sicherheitshalber noch Vorarlberg. Die Nord-Süd Ausdehnung reicht etwa von der Linie Zagreb-Mailand bis ins südliche Libyen, auf Höhe von Medina in Saudi-Arabien. Das sind 2800 Kilometer, mehr als die Strecke Stockholm–Tunis.
   Entgegen der landläufigen Ansicht, Japan erstrecke sich vor allem von Norden nach Süden, ist jedoch auch die Ost-West Ausdehnung mit fast 2000 Kilometern erheblich. Deshalb betreibt die ehemals staatliche Eisenbahngesellschaft Japan Railways ihr Unternehmen auf der Hauptinsel Honshu als JR-East und JR-West. Und ebenfalls entgegen der verbreiteten Meinung gibt es in Japan keineswegs nur dichtbesiedelte Gebiete, sondern auch sehr viel Natur. Es stimmt schon, 92 Prozent der Japaner leben in Städten, und die Ballungsräume Tōkyō-Yokohama und Ōsaka-Kyōto-Kobe gehören zu den bevölkerungsreichsten Regionen weltweit; aber in punkto Bevölkerungsdichte schaffen es beide nicht einmal unter die ersten zehn der Welt.
   Beeindruckend waren für mich von Anfang an die enormen Gegensätze. Von Ōsaka nach Kyōto durchfährt man sechzig Kilometer Stadtgebiet. Verlässt man aber dieses urbane Zentrum, so prägen ausgedehnte Waldregionen und weitläufige Reisfelder in ihrem unvergleichlichen Blaugrün die Landschaft. Mehrere vulkanische Gebirgsketten durchziehen die Inseln, und die Lage an der Bruchzone von drei tektonischen Platten macht Japan zu einer erdbebenreichen Region, weshalb das Land für den Betrieb von Atomkraftwerken besonders geeignet erscheint. Schließlich hat man sogar das Problem der Wiederaufbereitung und Endlagerung gelöst. Man hat es an Frankreich ausgelagert. »Safety first« ist eines der Grundprinzipien der japanischen Gesellschaft.
   Japan ist voller Widersprüche. Strengem Traditionsbewusstsein steht eine das ganze öffentliche Leben durchdringende Amerikanisierung gegenüber: Traditions-Küche neben Mac Donalds, kabuki-Theater neben Boy-Groups und Girlie-Szene, Teezeremonie neben Coca-Cola.

Nachdem die USA gegen Ende des Zweiten Weltkrieges als stärkster Verbündeter auf Seiten Japans ins Geschehen eingegriffen hatten, war die endgültige Unterwerfung Chinas nur mehr eine Frage der Zeit. Der den Unterlegenen gemeinsam diktierte Friedensvertrag von Nanking als Grundlage der unerschütterlichen Freundschaft und ewigen Kooperation zwischen den USA und Japan findet seine angemessene Fortsetzung in der ... Trans-Pazifischen ...    Partnerschaft ...      TPP ... oder ...oder sieht das jemand anders?

Die Haltung der Japaner gegenüber den USA ist ambivalent, da sie trotz des Kotaus vor deren »Way of Life« die Amerikaner als Feinde empfinden. Auch die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen folgen keiner klaren Linie. Zwar gab es im 19. Jahrhundert konstruktive wirtschaftliche Zusammenarbeit zum beiderseitigen Vorteil, aber bereits bei der Friedenskonferenz 1919 in Paris wurde Japan von den USA brüsk vor den Kopf gestoßen und international blamiert, als es einen Passus zur Gleichheit aller Rassen in den Text des Völkerbund-Abkommens aufgenommen sehen wollte. Die danach ständig zunehmenden Spannungen führten schließlich nahtlos in die Katastrophen des Pazifik-Krieges. Der Überfall auf Pearl Harbor seitens der Japaner, der Abwurf zweier Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki durch die USA, gefolgt von sieben Jahren amerikanischer Besatzung sind die Tiefpunkte der gemeinsamen Geschichte. Dennoch gilt Japan heute als wichtigster Verbündeter außerhalb der Nato, es gibt vielfältige institutionelle und kulturelle Kontakte, vieles in Japan erinnert an amerikanische Muster – vom Wahlkampf bis zu den Eiswürfeln im Getränk, von militanten außenpolitischen Parolen bis zu teuren Privatschulen. Nur Englisch, dieses verdammte Englisch konnten auch die Amerikaner in Japan nicht verwurzeln.
   Die Beziehungen zu den Nachbarstaaten Russland, China und Südkorea sind nach wie vor belastet durch Japans Rolle in den Kriegen des 20. Jahrhunderts und bis heute ungeklärte wechselseitige Gebietsansprüche. Dabei geht es nicht nur um Tradition und Nationalismus, sondern auch um handfeste wirtschaftliche Interessen. Zu allem Überfluss heizen gegenseitige Provokationen aller Beteiligten die Konflikte zusätzlich an.

»Hast du endlich etwas gegen diese Polen unternommen?«
   »Die sind doch gerade erst eingezogen!«, antwortete ich, überrascht über diese Aussage meiner sonst so ausländerfreundlichen Frau.
   »Keine Ahnung, wie man das nennt. Aber wenn sie erst einmal da sind, muss man sofort etwas unternehmen.«
   »Was stört dich eigentlich?«
   »Wieso mich, du rülpst doch immer die Nase.«
   »Du rümpfst die Nase.«
   »Nein, du. Ich kann sie nicht riechen.«
   »Ich weiß nicht, was du meinst. Sie machen keinen Lärm, sie stinken nicht, man sieht sie ja kaum.«
   »Atomstrahlung sieht man auch nicht. Sogar in der U-Bahn habe ich von einem Polen-Fluch gelesen.«
   »Mich begeistert der Rechtsruck in Polen auch nicht. Aber deshalb gleich einen Polen-Fluch heraufzubeschwören?«
   »Wieso rechts? Die kommen von allen Seiten, ohne Grenzen!«
   »Was in aller Welt haben dir diese Leute getan?«
   »Was für Leute? Ich rede nur von den Polen.«
   »Ich glaube, wir sprechen gerade nicht dieselbe Sprache.«
   »Deutsch, oder?«
   »Ich bin nicht sicher. Über unsere neuen Nachbarn sind wir jedenfalls unterschiedlicher Meinung.«
   »Magst du sie etwa nicht? Die sind doch aber sehr sympathisch.«
   »Du hast doch gesagt, ich soll etwas gegen die Polen unternehmen!«
   »Genau! Kümmere dich um deine Nase, und lass unsere netten Nachbarn in Ruhe!«
   »Die kommen aber aus Polen.«
   »Aus pōrando? Ich wusste es nicht. Sagt man ›Polen‹ auf Deutsch? Lustig, dasselbe Wort.«
   »Welches selbe Wort?«
   »Wie deine Polen.«
   »Wer bitte sind meine Polen?«
   »Die ganze Zeit rede ich davon! Die Polen, die in der Luft fliegen. Warum du dauernd niesen musst.«
   »Du meinst den Pollen-Flug von den Bäumen?«
   »Sag ich doch!«

[…]

Jedes Privathaus, jede Wohnung und jedes Hotelzimmer – auch solche in mehr oder weniger europäischem Stil – verfügen über einen genkan, einen Vorflur. Das ist der einzige Bereich, der mit Straßenschuhen betreten wird. Eine Stufe trennt den genkan vom eigentlichen Vorraum; hier scheiden sich Spreu und Weizen, an dieser Stufe scheitert der ungelernte Ausländer, er stolpert sozusagen in die Benimm-Falle.

   Meine erste genkan-Erfahrung machte ich in einem traditionellen Restaurant, wohin die Eltern meiner damals noch nicht Ehefrau uns eingeladen hatten. Eigentlich hatte auch unser japanisch-europäisches Hotelzimmer einen solchen Vorflur, aber dort habe ich nicht weiter darauf geachtet. Schuhe ausziehen, und dann auf Socken weiter, das war alles. In dieser unkontrollierten Situation waren mir die Tücken noch nicht bewusst geworden.
   Der Eingangsbereich im Restaurant war groß, die Stufe dahinter hoch und breit, davor noch eine Art Zwischenstufe, wie ein langer Schemel. Oben auf der Stufe eine Reihe vorbereiteter Pantoffeln, rechter Hand im Vorflur ein offenes Schuhregal.
   Nun gut. Schuhe ausziehen, ins Regal damit, dann die Stufe hinauf, in die Pantoffeln geschlüpft, und fertig – dachte ich. Zuerst. Dann fiel mir auf, dass ich noch nie darüber nachgedacht hatte, wie man unter Beobachtung künftiger Schwiegereltern (sie wussten noch nichts von ihrem Glück), einer kritischen Freundin (sie wusste es) und einer Schar hilfsbereiter Empfangsdamen, die alle perfekt Japanisch sprachen, typisch europäische Schuhe mit fest geschnürten Schuhbändern auszieht. Einfach so vorwärts hinunterbeugen? Eher hinhocken, knien? Meine Frau muss meine Ratlosigkeit erkannt haben.
»Setzt dich doch!«, sagte sie, auf die Stufe deutend.
   Gute Idee, dachte ich, wenn das also erlaubt ist. Ich setzte mich auf die Stufe, zog die Schuhe aus und trug sie zum Regal.
   »Was machst du?«, kam der entsetzte Zwischenruf meiner längst in Pantoffeln oben stehenden Frau. »Du kannst doch nicht mit den Socken hier gehen!«
   Das erschien mir logisch; die Socken sollten ja sauber bleiben. Aber wie kamen dann die Schuhe ins Regal? Die Frage beantwortete sich von selbst, als ein dienstbarer Geist sie mir aus der Hand nahm. Ich hätte sie einfach vor der Stufe stehen lassen sollen.
   Gut. Ich setzte mich also schnell wieder, nahm mir ein Paar Hausschuhe und wollte sie ...
   »Nein, aber doch nicht so!«
   »Was ist jetzt falsch?«
   »Du hast die Pantoffeln auf den schmutzigen Boden gestellt.«
   Ja, das hatte ich. Bei näherer Betrachtung war auch das nicht zu entschuldigen. Wie aber sollte ich die hinter mir auf der Stufe befindlichen Schlapfen anziehen, wenn ich sie nicht vor mich auf den Boden stellen durfte, aber auch nicht in Socken aufstehen?
   In diesem Moment begriff ich, warum Japaner in der Regel keine geschnürten Schuhe tragen, warum ich nie anderswo so viele Menschen in zu großen Schuhen gesehen habe, und wie sie alle eine bewundernswerte Schuhabstreifgewandtheit entwickelt haben.
   Es mag mit der häufigen Schuhfreiheit zusammenhängen, aber jedenfalls gelten Schuhe in Japan nicht als Kleidungsstück, nicht einmal als modisches Accessoire. Deshalb gibt es auch nicht die Gewohnheit, wie in Europa Schuhe zu sammeln. Sie sind nicht mehr als ein notwendiges Zubehör – oder nicht einmal notwendig. Auch zusammen mit höchst formeller Kleidung sind Schuhe in Japan verzichtbar. Der Anblick von Kaiser und Ministerpräsident im Gehrock und auf Socken erscheint nur Europäern als verstörend.
   Ich aber hatte Schnürschuhe und saß in Socken, getrennt von Weib und Pantoffeln durch eine schier unüberwindliche Stufe.
   »Wie soll ich?«, fragte ich also vorsichtig.
   »Wenn du die Schuhe schon ausgezogen hast, musst du jetzt mit den Socken auf die untere Stufe (die Zwischenstufe), dann drehst du dich um und schlüpfst oben in die Hausschuhe.«
   Eigentlich hätte ich im Sitzen die Schuhe nur aufschnüren sollen, um dann aufzustehen und aus den Schuhen direkt in die Pantoffeln zu steigen. Im häuslichen Bereich machen die meisten das mit dem Rücken zur Stufe, um beim Verlassen des Hauses vorwärts in die Straßenschuhe einsteigen zu können.
   Für diesen Abend war ich gerettet. Aber die Benützung von Pantoffeln sollte mich noch weiter verfolgen. Die Regeln des Umziehens im Hauseingang sind nämlich erst der Anfang der Geschichte. Schließlich gilt es als tabu, eine Privatwohnung mit Schuhen zu betreten, oder ein traditionelles Restaurant, Hotel etc. – alles, wo man einen genkan vorfindet. Auch Handwerker und Lieferanten werden stets ihre Schuhe ausziehen, die Putzkolonne im Hotel ebenso. Ich bin nicht ganz sicher, ob Feuerwehr, Polizei oder Rettung im Einsatz das auch tun; ziemlich sicher bin ich mir aber, dass so mancher Übeltäter sich schon auf leisen Socken davongemacht hat, weil er keine Zeit fand, in die Schuhe zu schlüpfen.
   Hat man den Vorflur überwunden und die Pantoffelzone erreicht, sind die Gefahren noch nicht vorbei, denn: der tatami-Raum darf nicht mit Hausschuhen betreten werden. Das eben mühsam neu erworbene Schuhwerk wird einem an der Schwelle zum Raum der Räume endgültig entzogen; hier herrscht Sockenpflicht.
   Nun saßen wir also im tatami-Socken-Raum des vornehmen Restaurants, als mich ein Verlangen überkam.
   »Darf ich bitte kurz die Toilette benützen?«, bat ich, während ich vor dem Zimmer die Pantoffeln wieder anzog.   
   »Ja, gleich da links. Pantoffeln stehen drinnen.«
   »Die hab ich schon an« , erwiderte ich.
   »Aber doch nicht die! Mit denen kannst du nicht auf die Toilette!«
   »Sondern?«
   »Mit den Toiletten-Schlapfen. Die stehen in der Toilette.«
   Toiletten-Schlapfen – Schlapfenwechsel – diesmal stufenlos. Hygiene ist nicht verhandelbar.
   Die Kunst besteht darin, von den einen in die anderen direkt umzusteigen, ohne dass diese oder jene den jeweils tabuisierten Boden berühren. Toiletten-Schlapfen nur und ausschließlich innerhalb der Toilette – außerhalb die normalen Pantoffeln – im tatami-Raum Pantoffelverbot. An Peinlichkeit kaum zu überbieten ist, wer in einem japanischen Haushalt vergisst, nach dem Toilettengang die Pantoffeln zu wechseln, und vielleicht noch mit dem unreinsten aller Fußwerke das tatami-Zimmer zu ...   

[...]

»Gehen wir, es ist blau!«, sagte meine Frau, als wir auf dem Weg zum Hotel an einer roten Ampel gewartet hatten.
   »Was ist blau?«
   »Die Ampel, wir können gehen.«
   Die Ampel war grün. Keine Frage. Meine Farbwahrnehmung ist in Ordnung, da bin ich mir sicher.
   »Warum sagst du blau, es ist doch grün?«
   »Auf Japanisch sagen wir blau.«
   »Warum denn das?«
   »Früher gab es kein Wort für Grün.«
   »Dann sind Wiesen wohl auch blau. Und Bäume?«
   »Wenn es geregnet hat.«
   »Sonst sind sie grün?«
   »Heute schon.«
   »Und früher war die Natur auch blau?«
   »Ein anderes Blau. Im Deutschen gibt es auch Hellblau, Dunkelblau und Himmelblau.«
   »Aber wenn es doch heute ein Wort für Grün gibt, warum sind die Ampeln dann immer noch blau?«
   »Tradition.«

[Ende der Leseprobe]